Verfasst von: mekin | 03/19/2009

[review]>>Catharina Schmalstieg: Prekäre Beschäftigung und personale Handlungsfähigkeit. Gewerkschaften als Handlungsplattform?

Abstrakt negiert ist halb kapiert - Beiträge zur marxistischen SubjektwissenschaftCatharina Schmalstieg (2008): Prekäre Beschäftigung und personale Handlungsfähigkeit. Gewerkschaften als Handlungsplattform? In: Lorenz Huck, Christina Kaindl, Vanessa Lux, Thomas Pappritz, Katrin Reimer, Michael Zander (Hg.): „Abstrakt negiert ist halb kapiert“. Beiträge zur marxistischen Subjektwissenschaft. Morus Markard zum 60. Geburtstag, S.131-151. ISBN 978-3-939864-05-9

Die Individualisierung und Prekarisierung von Lebens- und Beschäftigungsverhältnissen ermöglicht zwar einerseits die Befreiung aus kollektivistischen Zwängen, gleichzeitig gehen aber auch gemeinschaftliche Erfahrungsräume verloren. Geteilte Lebenslagen und Interessenskonstellationen werden weniger wahrnehmbar, kolletive Veränderungsprozesse für die einzelnen Individuen unfunktional. Catharina Schmalstieg diskutiert in ihrem Beitrag für die Festschrift „Abstrakt negiert ist halb kapiert“ zu Morus Markards 60. Geburtstag inwieweit Denk- und Handlungsangebote für prekär Beschäftigte bestehen, die über bestehende Beschränkungen hinausweisen und die Deutung der Bedingungen eigener Lebensweisen als schicksalshaft zurückweisen. Sie sieht gewerkschaftliche Organisation als Möglichkeit personale Handlungsfähigkeit zu erweitern, d.h. die Verfügung über Arbeits- und Lebensverhältnisse durch Beteiligung an Gewerkschaftsaktivitäten zu erhöhen. Mit Bezug auf die Organisation von Arbeiter_innen des Sicherheitsgewerbes in der San Francisco Bay Area, California zeigt sie unter welchen Bedingungen Gewerkschaften als Handlungsplattformen und „kooperative Integration“ ermöglichen können.

Angesichts sich zunehmend prekarisierender Beschäftigungsverhältnisse und die sich hierdurch reproduzierenden Ausgrenzungsbewegungen entlang den Kategorien class, race und gender schätzt unter anderen Pierre Bourdieu (Das Elend der Welt, 1997) Möglichkeiten kollektiver Handlungsfähigkeit pessistisch ein, da Vorwegnahmen von Zukunft stark eingeschränkt sind. Inwiefern kollektive Handlungsfähigkeit für die Individuen möglich erscheinen, hängt davon ab, wie lage- und positionsspezifische Bedingungskonstellationen konkret beschaffen sind. Aus Sicht der Kritischen Psychologie ist Handlungsfähigkeit kategorial vorausgesetzt, Handeln selbst stellt die Realisierung von Handlungsmöglichkeiten dar und ist sowohl als Handeln im Bestehenden und Handeln in Überwindung einschränkender Verhältnisse denkbar. Zu klären ist inwieweit im „subjektiven Möglichkeitsraum“ Handlungsalternativen erfahrbar sind, die im Zusammenschluss „in unmittelbarer Kooperation“ (Holzkamp) eine Verbesserung der „je eigenen“ Situation ermöglichen könnten. Festzuhalten ist nach Schmalstieg, dass „Handlungziele, die in einem wie auch immer gearteten überindividuellen Zusammenschluss formuliert und verfolgt werden, [es] ermöglichen, sich von »Denkverboten,« die die Aufrechterhaltung des restriktiven Modus ermöglichen, zu entfernen und die formulierten Interessen und Handlungsziele [des Zusammenschlusses] »motiviert« zu übernehmen, d.h. als eigene Interessen zu verfolgen“ (S.136). In Bezug auf Arbeiter_innen im Sicherheitgewerbe in den USA sind Perpektiven „organisierter kooperativer Integration“ durch konkrete Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten schwierig, aber keineswegs undenkbar. Die bei Sicherheitsfirmen Beschäftigen arbeiten meist vereinzelt und unter geringer Entlohnung. Arbeitsrechte werden zudem unterminiert, Lohnzahlungen erfolgen meist unregelmäßig und unbezahlte Tätigkeiten sind an der Tagesordnung. „Arbeitsbezogene kooperative Bezüge“, so hält Schmalstieg fest: „sind so gut wie nicht vorhanden, so dass es schwierig ist, vorhandene Frustation in kollektives Handeln zu überführen“ (S.139).

Gewerkschaften können in Verhältnissen, in denen die gesellschaftliche Lage und Position der prekär Beschäftigten als grundsätzlich verschieden von einander gesehen werden, dazu beitragen, dass „Denkangebote zur Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse“ gemacht werden, die Gruppengrenzen und gesellschaftliche Trennungen als nicht unveränderlich erfahrbar machen. Hierfür spielt die Möglichkeit der Partizipation an Arbeitskämpfen und Gewerkschaftsarbeit eine entscheidenen Rolle, denn damit entsprechende Denkangebote als subjektiv bedeutsam angesehen werden, muss die Gewerkschaftsarbeit so organisiert sein, dass sie es den Beteiligten ermöglicht eigene und nicht fremdgesetzte Ziele zu verfolgen. Gewerkschaften kann es daher nicht nur darum gehen, im Sinne des „external organizing“ bereits Aktive Mitglieder für die Gremienarbeit zu gewinnen, sondern auch Nicht-Mitglieder in konkrete Kämpfe mit einzubeziehen (internal organizing). Über Gespräche über Arbeitsbedingungen, Angebote zur Beteiligung an niedrigschwelligen Aktionen und andere Formen können kollektive Handlungsstrategien entwickelt und Interessengemeinsamkeiten aufgezeigt werden, die wiederum Grundlage für weitergehende Schritte sind.

Dass dies nicht nur eine abstrakte Gedankenspielerei ist, sondern hierüber kollektives Handeln zur Veränderung von spezifischen Situationen befördert werden kann, verdeutlicht Schmalstieg an Untersuchungen der „Stand-For-Security-Kampagne“ der Gewerkschaft SEIU (Service Employee International Union) im Jahr 2007, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen diskutiert werden sollen. Zusammenfassen lässt sich jedoch, dass zahlreiche bisher nicht in Arbeitskämpfen beteiligte Beschäftigte im Sicherheitgewerbe an kollektiven Handlungsformen teilnahmen, Ängste und Frustationen in gemeinsame Interessensvertretung überführt werden konnten und es den Einzelnen möglich wurde, in Überschreitung ihrer Vereinzelung Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen (höhere Löhne, „Family Health Care Plans“ u.a.) zu erreichen. „Die bisherige Anaylse lässt den Schluss zu, dass Gewerkschaften als Handlungsplatform fungieren und eine »kooperative Integration« ermöglichen können, indem sie prekär Beschäftigten 1. Denk- und Handlungsalternativen bieten, die Aussicht auf eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse ermöglichen, und 2. über damit verbundene kollektive Prozesse individuelle Bedrohtheit minimieren“ (S.148). Für prekär Beschäftigte bestehen daher tatsächlich Denk- und Handlungsangebote, in denen eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten bspw. durch eine Beteiligung an Arbeitskämpfen und kollektiven Aktionen der Gewerkschaft antizipiert werden können. Die Funktionalität von Deutungen gesellschaftlicher und lebensweltlicher Bedingungen als schicksalshaft kann so zu Gunsten einer Veränderung einschränkender Verhältnisse zurücktreten.


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